Scherm, Alexander

Staatliche Fachoberschule

Klasse 12Tb B a y r e u t h

 

F A C H A R B E I T

aus dem Deutschen

 

 

 

Der Mensch zwischen übermenschlichen Mächten

in Wolfgang Borcherts "Draußen vor der Tür"

 

 

Abgabetermin: 24.02.1997

Referat gehalten am: ---

 

 

Inhaltsverzeichnis

 

A. Die Situation der jungen Schriftsteller nach dem 2. Weltkrieg

 

B. Der Mensch zwischen übermenschlichen Mächten in Wolfgang Borcherts "Draußen vor der Tür"

 

I. Zum Autor

1. Borcherts Leben
2. Seine wichtigsten Werke

II. Zum Drama

1. Der Inhalt
2. Der Aufbau

III. Die "übermenschlichen Mächte" und ihr Einfluß auf Beckmann

1. Die Toten
2. Der alte Mann
3. Der Tod
4. Der Andere
5. Die Elbe

IV. Zusammenfassung der Problematik

C. Bezug zur Gegenwart


Quellennachweis

Literaturverzeichnis

Anhang (Bild von Borchert und Uraufführungsplakat)

 

 

 

 

Nach dem 2. Weltkrieg bot Deutschland ein Bild der Zerstörung. Auch innerlich hatte der Krieg viele Menschen verletzt - auch zerstört. Deshalb kann man bei der Betrachtung dieser Zeit die äußere Not nicht von der inneren trennen, die physische nicht von der psychischen. Angesichts der damaligen Wirklichkeit stellten sich für jeden Schriftsteller die Fragen: Kann ich an Vergangenes anknüpfen? Gibt es noch etwas Verbindliches? Endet die literarische Tradition 1933 und beginnt sie 1945 neu? Wie soll dieser Neubeginn vonstatten gehen? Auch die Sprache mußte gesichtet und von nationalsozialistischen Prägungen befreit werden. Als einer der ersten griff Wolfgang Borchert zur Feder und thematisierte in seinem Drama "Draußen vor der Tür" die Problematik des Krieges und seiner Folgen.

Wolfgang Borchert wurde am 20. Mai 1921 in Hamburg geboren. Sein Vater, Fritz Borchert, war Lehrer, seine Mutter, Hertha, war in Norddeutschland eine bekannte Heimatschriftstelle-rin. Die intensive Bindung an sie bestimmte Borchert nicht nur in seiner Kindheit. 1938 veröffentlichte er seine ersten Gedichte im Hamburger Anzeiger, die er seit seinem 15. Lebensjahr geschrieben hatte. Wegen seiner schlechten Leistungen verließ er nach der 7. Klasse die Oberrealschule. Sein Wunsch, Schauspieler zu werden, wurde von seinen Eltern abgelehnt; er mußte eine Lehre als Buchhändler anfangen. Nebenbei nahm er noch privaten Schauspielunterricht bei Helmut Gmelin. Im April 1940 verhaftete ihn die Gestapo wegen einer Ode, die das Thema der Knabenliebe behandelte. Nach einer Nacht Haft und Verhör ließ man ihn wieder frei. Ende des Jahres besteht er seine Schauspielprüfung und bricht daraufhin seine Lehre ab. Borchert bekommt ein Engagement am Wandertheater "Landesbühne Osthannover" für das erste Halbjahr 1941. Im Juni wird er zu einer Panzer-Nachrichten-Ersatzeinheit einge-zogen. Die Erfahrung von Drill und Demütigung der Soldatenausbildung und der Eindruck des nahe gelegenen KZ Buchenwald bringen ihn in einen nun bewußten und politisch definierten Gegensatz zum nationalsozialistischen Staat. "Aus einem der schönsten Zuchthäuser des Dritten Reiches sende ich dir die besten Grüße",1) schreibt Borchert auf einer Postkarte. Im November 1941 schickt man Borchert an die Ostfront. Im Dezember kommt er bei Kalinin nahe Moskau zum Einsatz. Anfang des Jahres 1942 erkrankt er zum erstenmal an Gelbsucht und wird an der Hand verwundet. Er wird daraufhin in ein Lazarett nach Deutschland verlegt und aufgrund einer Verdächtigung wegen Selbstverstümmelung vor Gericht gestellt, aber trotz der beantragten Todesstrafe doch freigesprochen. Durch eine erneute Anklage wegen staatsgefährdender Briefe bleibt er weiter in Haft, die nach sechs Wochen in anschließende Frontbewährung umgewandelt wird. Im Dezember erfolgt ein erneuter Einsatz an der Front, und zwar als waffenloser Melder in den Kämpfen um Toropez nördlich von Smolensk. Wegen Fußerfrierungen und erneuten Gelbsuchtanfällen kommt er im Januar 1943 ins Seuchenlazarett nach Smolensk und wird nach Deutschland versetzt. Hier erhält er dann im September Heimaturlaub und tritt als Kabarettist im Hamburger "Bronzekeller" auf. Gegen Ende des Jahres soll er wegen Dienstuntauglichkeit aus der Armee entlassen und an ein Fronttheater abgestellt werden. Borchert feiert den Vorabend seiner Entlassung in der Hindenburg-Kaserne in Kassel mit einem Vortrag einer Goebbels-Parodie, wird wegen seiner Witze erneut verraten, verhaftet, aber zunächst dann doch freigelassen, jedoch Anfang 1944 erneut verhaftet und wegen "Zersetzung der Wehrkraft" zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Im September erfolgt eine Entlassung zur "Bewährung vor dem Feind". Im Frühjahr 1945 gerät er bei Frankfurt am Main in französische Kriegsgefangenschaft. Aus einem Gefangenentransport gelingt ihm die Flucht. Er schlägt sich zu Fuß nach Hamburg durch, wo er trotz erneuter Anfälle einer rätselhaften Leberkrankheit am 10. Mai ankommt. Dort gründet er am 1. November 1945 mit den Schauspielerinnen Lotte Manzart und Viola Wahlen sowie mit der Radiolektorin Ruth Malchow das Hinterhoftheater "Die Komödie". Zur selben Zeit tritt er auch im Kabarett "Janmaaten im Hafen" auf. Im November wird er Regieassistent bei der Aufführung von "Nathan" am Hamburger Schauspielhaus. Diese Arbeit wird durch eine erneute Krankheit unterbrochen. Ab Winter 1945/46 ist nun Wolfgang Borchert bis zu seinem Tod ans Bett gebunden. Der Aufenthalt im Krankenhaus bringt dann seinen schriftstellerischen Durchbruch. Am 24. Januar 1946 entstehen dort auf dem Krankenbett vier Erzählungen, darunter "Die Hundeblume". Er wird nach Ostern wegen eines unheilbaren Leberleidens aus dem Krankenhaus entlassen und schreibt bis zum Ende des Jahres insgesamt noch 24 Erzählungen und Kurzgeschichten. Im Dezember 1946 erscheint der Gedichtband "Laterne, Nacht und Sterne". Etwa zum Jahreswechsel schreibt er in wenigen Tagen das Werk "Draußen vor der Tür", das am 13. Februar 1947 zum erstenmal vom Nordwestdeutschen Rundfunk gesendet wird. Der Prosaband "Die Hundeblume" erscheint dann im April desselben Jahres. Seine Freunde haben ihm in Basel einen Platz im Clara-Spital verschafft, wohin er am 22. September 1947 reist. Hier stirbt er - einen Tag vor der Uraufführung seines Werkes "Draußen vor der Tür" in den Hamburger Kammerspielen - am 21. November 1947. Wolfgang Borchert wurde nur 26 Jahre alt.

Nach seiner Rückkehr nach Hamburg blieben dem todkranken Borchert nur zwei knappe Jahre zum Schreiben. Vieles, was er schrieb, handelt vom Elend der Hungernden und Kriegskrüppel, von Heimkehrern und Heimatlosen, zweifellos fließen auch eigene Erlebnisse und die aktuelle Situation Deutschlands in sein Werk ein. Es entstehen in rascher Folge 24 Prosastücke und eine Gedichtesammlung. Im darauffolgenden Jahr schrieb er noch weitere 22 Geschichten. Die berühmtesten Werke davon sind "Die Hundeblume", "Das Brot", "Die Kegelbahn", "An diesem Dienstag", "Mein bleicher Bruder" und "Nachts schlafen die Ratten doch". Sie alle befassen sich mit der Thematik des Krieges und der daraus resultierenden Not und Hoffnungslosigkeit. So auch sein bekanntestes Werk "Draußen vor der Tür".

Beckmann, die Hauptfigur, kehrt mit steifem Knie und Gasmaskenbrille vom Krieg heim. Von seiner Frau verlassen, heimatlos, vom Krieg und Gefangenschaft aller Kraft und Hoffnungen beraubt, beschließt er, seinem Leben ein Ende zu setzen. Doch die Elbe, in die er sich stürzt, wirft ihn unwillig wieder ans Ufer zurück. Unversehens sieht sich Beckmann um die erträumte ewige Ruhe gebracht und in eine Wirklichkeit geworfen, die jeden Sinn für ihn und er für Sie verloren hat. Nochmals sieht er sich gezwungen, im Leben Fuß fassen zu müssen, aber alle seine Versuche schlagen fehl. Als er am Ufer erwacht, begegnet er zum ersten Mal dem Anderen und erzählt ihm seine Geschichte: seine Gefangenschaft in Rußland, die Heirat seiner Frau mit einem anderen Mann und der Tod seines Kindes in den Trümmern von Berlin. Nun taucht eine junge Frau auf, nimmt ihn voller Mitleid mit nach Hause und schenkt ihm die Kleider ihres verschollenen Mannes. Als Beckmann erfährt, daß dieser Mann in Stalingrad vermißt sei, hält er es in diesem Zeug nicht mehr aus. Der Verschollene kehrt einbeinig und auf Krücken zurück. Beckmann flieht, und der Andere rät dem Einsamen und Hilflosen, seinen ehemaligen Oberst aufzusuchen und ihm die Verantwortung zurückzugeben, die ihn jener im Krieg für einen Spähtrupp aufgeladen hatte. Beckmann fühlt sich auch für die Toten verantwortlich und kann deswegen nicht mehr schlafen. Zuerst verunsichert, lacht der Oberst Beckmann schließlich aus, er sei ein Komiker und solle sich im Theater melden. Die nächste Szene zeigt, wie der betrunkene Beckmann einen Kabarettdirektor aufsucht, bei dem er mit traurigen Bänkelliedern über die Leiden des Krieges um Arbeit bittet. Dieser schickt Beckmann weg, denn keiner will etwas von der Wahrheit wissen. Nochmals überredet ihn der Andere, nicht in die Elbe zu springen, sondern seine Eltern zu suchen. Vor seinem Geburtshaus erfährt er von einer Frau Kramer, daß sich die beiden Alten das Leben genommen haben. Seine letzte Hoffnung ist zusammengebrochen, es gibt für ihn auch keine Rückkehr in die Alltagswelt seines bürgerlichen Elternhauses und die Geborgenheit seiner Kindheit. Beckmann gibt endgültig auf. Sein Weg führt ihn wieder zur Elbe. Sein anderes "Ich" - das lebensbejahende und optimistische Ego - versucht vergebens, ihn zur Umkehr zu bewegen. In einem weiteren Traum ziehen an Beckmann die Gestalten vorbei, denen er seit der Heimkehr in seine Vaterstadt begegnet ist: der alte Mann bzw. Gott, der Straßenkehrer, der Tod, den er bittet, eine Tür für ihn offenzuhalten. Auch seine "Mörder" erscheinen ihm nochmals: der Oberst, der Direktor, Frau Kramer, seine Frau mit ihrem neuen Mann. Am Schluß des Dramas trifft Beckmann nochmals auf den Einbeinigen. Dieser spricht ihn schuldig an seinem Selbstmord. Tragischerweise wurde Beckmann ohne sein Wissen und Wollen zum Mörder. Er kann der gegebenen Situation nicht entfliehen: Wo er hinkommt, wird er mit Schuld und Tod konfrontiert. Die Kontrolle über sein eigenes Leben ist ihm verlorengegangen. Als er aus dem Traum erwacht, muß er erkennen, daß er kein Recht auf Selbstmord hat, er ist zum Leben verdammt, verraten wie er ist: Keiner hört ihn, und keiner gibt ihm mehr Antwort.

Draußen vor der Tür ist ein Zeit- und Gegenwartsstück. Es handelt von den Problemen eines Kriegsheimkehrers. Schauplatz ist die Stadt Hamburg im Herbst des Jahres 1946. Das Drama besteht aus fünf Szenen, denen ein einleitender Text, das "Vorspiel" und der "Traum" vorangestellt sind. Beckmann durchläuft die Stationen des Dramas ohne eine Weiterentwicklung. Der Hoffnungslosigkeit zu Beginn steht die Hoffnungslosigkeit am Ende gegenüber. Die Handlung spielt auf drei verschiedenen Ebenen, die zum Teil ineinander übergreifen. Die erste Ebene verkörpert die Wirklichkeit. Beckmanns Gang von Tür zu Tür gliedert den Ablauf. Der zweiten Ebene sind die beiden Träume und die Anklage seiner toten Kriegskameraden zuzuordnen. Die Traumszenen spiegeln die Bedrückungen wider, unter deren Last Beckmann leidet: die schwere Verantwortung der Lebenden für die Toten und die jähe, erschreckende Erkenntnis, daß "alle Menschen", auch er selbst, Mörder sind. Gott und der Tod haben eine gesonderte Stellung, außerhalb der bereits genannten Ebenen, weil sie unabhängig von der Realität und den Träumen stehen.

Beckmann leidet sehr unter seiner Schuld. Er kann nicht mehr durchschlafen. Seine toten Kameraden tauchen in seinem Traum auf, den er dem Oberst beim Abendessen erzählt. Wenn der General im Traum das Riesenxylophon spielt, erscheinen die Toten. Sie stehen aus ihren Massengräbern auf und ziehen als Gladiatoren ein. Mit ihrem blutigen Gestöhn klagen sie ihn an. Der General sagt dann: "Unteroffizier Beckmann, Sie übernehmen die Verantwortung. Lassen Sie abzählen. Und dann stehe ich da, vor den Millionen hohl grinsender Skelette, vor den Fragmenten, den Knochentrümmern, mit meiner Verantwortung, und lasse abzählen."2) Beckmann hatte die Verantwortung für einen Spähtrupp. Diese wurde ihm im Krieg von sei-nem Oberst übertragen. Beckmann wird nicht damit fertig, daß unter seinem Kommando, unter seiner Verantwortung elf Kameraden den Tod fanden. Jede nacht begegnen sie ihm im Traum. Er fühlt sich schuldig und will diese Schuldgefühle loswerden, indem er die Verantwortung an den Oberst zurückgibt. Die Befreiung von dieser Last gelingt jedoch nicht - er muß zurück auf die Straße und resigniert. Dieser Traum verdeutlicht, wie die unbewältigte Vergangenheit in die Gegenwart hineinwirkt, und macht klar, daß Beckmann keine Möglichkeit findet, sich dem zu entziehen. Er kann den erdrückenden Erlebnissen des Krieges nicht entfliehen. Sie prägen seine Stimmung und beeinflussen sein Handeln. Krieg ist erst dann wirklich vorbei, wenn die Wunden, die er geschlagen hat, verheilt sind. Borchert fragt in seinem Stück: Wie kann das geschehen? Die Antwort bleibt offen. Eine mögliche Erklärung kann Gott liefern.

Borchert beschreibt in seinem Werk Gott als einen alten, schwachen Mann, an den keiner mehr glaubt, der hilflos allem gegenübersteht. Beckmann trifft ihn, als er resignieren will. Der Alte kommt die Straße herauf und trauert nur um seine armen Kinder. Beckmann verspottet ihn schier am Anfang. "Ach, du bist der liebe Gott. Wer hat dich eigentlich so genannt, lieber Gott? Die Menschen? Ja? Oder du selbst? ... Seltsam, ja, das müssen ganz seltsame Menschen sein, die dich so nennen, ... ich kenne keinen, der ein lieber Gott ist, du!"3) Er klagt ihn an und macht ihn verantwortlich für den Tod seines einjährigen Sohnes. Borchert gibt in diesem Werk Gott allein die Schuld für die Zerstörungen, die Trümmer, die unzähligen Toten und überträgt hier meiner Meinung nach auch die eigenen Gefühle, die Erfahrungen, die er im Krieg mitgemacht hat, auf die Person Beckmanns. Er klagt ihn an und fragt nach seinem Verbleiben in Zeiten der Not. Man habe zwar nach ihm gerufen, aber nie eine Antwort erhalten. Es wird deutlich, Borchert bzw. Beckmann haben in ihrer Situation ihren Glauben an Gott verloren. Gott erscheint als überholte und machtlose Institution. Borchert, denke ich, hat zu seinem Glauben an Gott nicht wiedergefunden. Das Geschehene beweist, daß ein "lieber Gott" nicht existieren kann. "Gottes" Rechtfertigung besteht nur darin, daß es doch die Menschen seien, die sich von Gott abgewendet haben und nicht er von ihnen. Muß in einem Leben ohne Gott, in einer Welt, die sich nicht an göttlichen Maßstäben orientiert, nicht zwangsläufig früher oder später der Zusammenbruch erfolgen? Dies akzeptiert Beckmann nicht. Für ihn steht nicht die Freiheit des Menschen, sich für oder gegen Gott zu entscheiden, im Vordergrund, sondern er fordert Gottes Hilfe in jedem Fall, anderweitig wäre es Gott, der den Menschen die Tür verschließt. Er legt Gott "das Zulassen" als Ohnmacht aus. Daraus ergibt sich für Beckmann die Schlußfolgerung: Gott ist tot oder er schläft. Ein anderer, der Tod, ist an seinen Platz getreten. Die Allmacht des Todes triumphiert. Gott ist nicht mehr zeitgemäß. "Auch Gott steht draußen, und keiner macht ihm mehr eine Tür auf. Nur der Tod, der Tod hat zuletzt doch eine Tür für uns. Und dahin bin ich unterwegs."4) Beckmann sieht sich auf dem Weg zum Tod und nicht zum ewigen Leben bei Gott. Gottes Argumente sind zu schwach, um Beckmann von dieser Sichtweise abzubringen. Im Gegensatz zu Gott tritt der Tod als Sieger auf.

Bereits im Vorspiel des Stücks lüftet Borchert die Maske mancher seiner Figuren. Der Tod wird durch zwei verschiedene Gestalten sinnbildlich dargestellt. Zu Beginn des Stückes als Bestattungsunternehmer, der dauernd rülpsen muß, weil er sich an seinen Opfern überfressen hat, am Schluß als Straßenkehrer. Einfluß auf ihn nimmt aber nur der Straßenkehrer. Er kommt in der Schlußszene zu einem Gespräch mit Beckmann und dem Anderen. Beckmann ist am Boden zerstört und will nicht mehr leben. In diesem Gespräch bezeichnet der Tod sich selbst nicht als Straßenkehrer, sondern als "ein Angestellter des Beerdigungsinstitutes Abfall und Verwesung"5). Den Straßenkehrer könnte man als Gegenspieler zum Anderen bezeichnen. Er zeigt Beckmann als einziger eine offene Tür. Beckmann ruft ihm nur zu: "Tod, Tod, laß mir die Tür offen. Tod, mach die Tür nicht zu." Dieser antwortet darauf: "Meine Tür steht immer offen. Morgens. Nachmittags. Nachts. Im Licht und im Nebel. Immer ist meine Tür offen. Immer. Überall."6) Er gibt Beckmann das Gefühl, zu ihm könne er immer kommen, egal wann. Hier würde er aufgenommen. Bei ihm steht eine Tür für ihn offen und nicht wie in all den anderen Situationen, wo er nur immer draußen vor der Tür stand. Daß es den Tod gibt, läßt sich nicht leugnen, weil er seine Existenz gerade in der Zeit während des Krieges und danach millionenfach bewiesen hat. Viele Menschen waren unmittelbar betroffen, so auch Beckmann durch den Tod seiner Kameraden und den Selbstmord seiner Eltern. Obwohl ihn der Tod jede Nacht in Gestalt seiner toten Kameraden verfolgt und unglücklich macht, erscheint er ihm andererseits für sich selbst als letzten Ausweg aus aller Hoffnungslosigkeit und als Befreiung von der Bürde der Verantwortung. Letztlich läßt Borchert aber den Anderen die Oberhand gewinnen. Der Einfluß des Straßenkehrers ebbt ab.

Der Andere ist "eine Art lebensbejahendes, optimistisches alter ego, das" Beckmann "auf seinen bisherigen Lebensstationen begleitet hat"7) und sich am Schluß vergebens bemüht, ihn zum Umkehren zu bewegen. Er nennt sich selbst einen Jasager. Ich sage ja, wenn du nein sagst. Während Beckmann sein Leben beenden möchte, versucht ihn der Andere zum Leben zu bewegen. Er ist ein Optimist, der trotz des Bösen nach dem Guten sucht. Dieser treibt ihn an, wenn Beckmann meint, nicht mehr zu können. Borchert läßt den Anderen immer dann im Stück auftreten, wenn Beckmann nicht mehr weiterweiß oder Probleme hat, er gibt ihm Ratschläge und versucht ihn zur Umkehr, zum Leben zu bewegen. Der Andere taucht das erstemal auf, nachdem Beckmann von der Elbe wieder an Land geworfen wurde. In seiner Verzweiflung, daß er nicht tot ist, gesellt sich der Andere zu ihm. Beckmann sieht sich um die gewünschte ewige Ruhe gebracht. Der Andere spricht ihm wieder Mut zu, und Beckmann verläßt mit einem Mädchen den Strand. Nachdem er aus dem Haus des Mädchens flieht und in seiner Hoffnungslosigkeit wieder in Richtung Elbe unterwegs ist, stellt sich ihm der Andere erneut in den Weg. Beckmann leidet in diesem Gespräch unter seiner Persönlichkeit. Er kann seinen Namen, seine Existenz nicht mehr ertragen. Sein "Dasein" bedeutet zugleich vorhandene Schuld. Der Andere rät Beckmann, daß er nur von seinen Schuldgefühlen loskomme, wenn er die Verantwortung, die er damals für die Soldaten hatte, an seinen Oberst zurückgibt. Leider gelingt das nicht, und auch das Vorsingen im Theater schlägt fehl. Beckmann, der jetzt wieder am Boden zerstört ist, will sich nun erneut umbringen. Es tritt wieder der Andere zu ihm und überzeugt ihn, daß es doch noch eine Möglichkeit gäbe, eine offene Tür zu finden. Er zeigt ihm Perspektiven auf. Beckmann hört noch einmal auf den Anderen und geht zu seinem Elternhaus. Die Wahrheit, die er dort erfährt, erschlägt ihn völlig. Alle weiteren Versuche des Anderen, ihn zusammen mit verschiedenen Personen vom Weiterleben zu überzeugen, schlagen fehl. Beckmann ist nun völlig heimatlos und sieht keinen Grund mehr, weiterzuleben. Der Andere und Beckmann sind im Grunde eine Person. Borchert hat sozusagen die eigentliche Hauptperson auf zwei Rollen verteilt. Man könnte den Anderen auch als die unterdrückte optimistische Seite von Beckmann bezeichnen, die durch den Krieg verschüttet wurde. Beckmanns Situation verdrängt die Person des Anderen, seine negative, pessimistische Seite dominiert. Beide stehen immer im Streit. Sie streiten über den Sinn des Lebens und können sich bis zum Schluß nicht darüber einig werden, wer nun recht hat. Borchert geht sogar so weit, daß Beckmann völlig allein dasteht. Der Andere, der ihn lange Zeit getrieben hat, weiterzuleben, verläßt ihn. Auch der "Jasager" kann ihm keine Antwort geben auf die Frage nach dem Recht auf Selbstmord. Vorübergehende, oberflächliche Aufmunterungen konnte der Andere leisten, Hilfe bei der Bewältigung der schweren inneren Konflikte Beckmanns nicht.

In der zweiten Szene " Der Traum" befindet sich Beckmann, nachdem er vom Ponton aus ins Wasser gesprungen ist, in der Elbe. Borchert läßt vor dem Leser das Bild eines alten Weibes mit häßlichem, breitem Hamburger Dialekt entstehen. Damit wird trotz der negativen Erscheinungsform die mütterliche Verantwortung der Elbe für Beckmann ausgedrückt. Sie hat Lebenserfahrung. Beckmann soll erst einmal so viel durchmachen wie sie, dann könne er entscheiden, ob er sich des Leben nehmen wolle oder nicht. Beckmann versteht anfangs nicht gleich, wo er sich befindet. Die Elbe fragt ihn zu Beginn, warum er sich umbringen wolle. Beckmann bringt darauf nur kurz und bündig, daß er schlafen wolle. Die Elbe rügt und kritisiert das Selbstmitleid von Beckmann. Sie lacht in fast aus und verspottet ihn. Sie will das armselige bißchen Leben von ihm nicht haben, und so spuckt sie ihn wieder an Land. Borchert stellt die Elbe im Zwiespalt dar. Eigentlich macht sie Beckmann wieder Mut und überredet ihn im Grunde genommen, es freiwillig noch mal zu versuchen. Sie tritt als Gegenspielerin des Todes auf. Andererseits gibt sie auch zu erkennen, daß sie nicht jeden zum Weiterleben auffordert. Am Anfang sagt sie: "Du bist mir zu wenig, mein Junge ... Lebe erst mal ..., wenn dein Herz auf allen vieren angekrochen kommt, dann können wir mal wieder über die Sache reden."8) Es wird deutlich, daß die Elbe seine Entscheidung in diesem Moment zwar positiv beeinflußt, sie läßt ihm aber auch die Möglichkeit offen, sich später doch noch umzubringen. Sie veranlaßt ihn, seine Situation neu zu überdenken. Sie versucht ihm klarzumachen, daß sein Schicksal kein Einzelschicksal ist, in dem Sinn: Alle waren Soldaten, alle hinken irgendwo.

Vergleicht man den Einfluß der übermenschlichen Mächte auf Beckmann, so wird deutlich, daß der Tod den geringsten Einfluß hat. Obwohl Borcherts Hauptfigur sich ständig mit dem Thema "Tod und Sterben" auseinandersetzt, kommt der Tod nur in der Schlußszene kurz auf ihn zu und vermittelt ihm das Gefühl, wenn alles schiefgehe, könne er trotzdem zu ihm kommen. Er sei immer für ihn da. Die Elbe, die ihm im Anfangskapitel Mut zuspricht, weiterzuleben, nimmt auch kaum Einfluß auf Beckmann. Sie läßt ihm zwar auch die Möglichkeit offen, sich doch noch in ihr umzubringen, aber größere Auswirkungen hat dies auf Beckmann nicht. Gott dagegen läßt in Beckmann starke Emotionen aufbrennen. In der Diskussion mit ihm kommt heraus, daß er ihm die ganze Schuld, sei es für den Tod seines Sohnes oder für den Ausbruch des Krieges, gibt. Er regt sich mächtig über den alten Mann auf. Der Andere lenkt Beckmann im Grunde durch das ganze Drama. Er macht ihm immer wieder Mut zum Weiterleben, versagt am Schluß aber dann doch kläglich und verdeutlicht damit, daß Borchert keinen Grund zum Weiterleben sieht. Den meisten Einfluß haben die Toten auf Beckmann. Sie verklagen ihn und machen ihm das Leben zur Hölle. Er schafft es bis zum Ende das Dramas nicht, von ihnen loszukommen. Aus Krieg und Gefangenschaft kehrt Beckmann als eine labile und schwache Gestalt wieder, die, vom Krieg zermürbt, nicht weiß, wie sie mit der Erkenntnis weiterleben soll, selbst Gemordeter und Mörder in einer Person zu sein. Beckmann wacht im doppelten Sinn aus einem Traum auf. Er, der sich bisher nur in der Rolle des Opfers gesehen hat, begreift, daß ein Mensch immer auch zum Mörder seiner Umgebung werden kann durch die Zwänge des Lebens. Daß die Situation am Anfang gleich der Situation am Ende ist, zeigt die Hoffnungslosigkeit der Zeit, in die Beckmann hereinkam und die ihn bis zum Ende keiner nehmen und er selbst auch nicht ablegen konnte. Mit jeder Szene wird klarer: Die Welt braucht keinen Heimkehrer, sondern einen "Neuanfänger". Beckmann soll sich anpassen, aber kein Mitleid oder Hilfe fordern.

Selbst wenn Deutschland seit mehr als 50 Jahren nicht mehr in eine militärische Auseinander-setzung innerhalb seines Landes verwickelt war, hat die Thematik nichts an Aktualität verloren. Krieg in all seinen Erscheinungsformen, Unfrieden zwischen einzelnen Menschen, Gruppierungen und Volksgruppen findet auch heute statt und hat enorme Auswirkungen auf die Gesellschaft insgesamt und auf das Individuum. Der ethnische Konflikt im ehemaligen Jugoslawien demonstriert das einer ihm hilflos gegenüberstehenden Weltöffentlichkeit auf drastische Weise. Die Medien berichten von Flüchtlingsschicksalen, Heimkehrerproblemen und nicht bewältigten Erlebnissen im Zusammenhang mit Waffengebrauch gegenüber früheren Nachbarn und Kollegen sowie körperlichen und seelischen Verwundungen und über Soldaten, die nach dem Krieg vor allem psychisch unter dem leiden, was sie gesehen und erlebt haben. Borchert war in der gleichen Situation und hat versucht, das Erlebte aufzuarbeiten. Durch seinen frühzeitigen Tod war es ihm nicht vergönnt, eine Antwort auf die brennenden Fragen des Selbstverständnisses seiner Generation zu geben.

 

 

 

 

 

Quellennachweis

 

1) Rühmkorf, Peter: Wolfgang Borchert in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. In: Balzer, Bernd: Wolfgang Borchert, Draußen vor der Tür. Frankfurt am Main 21988. S. 13

 

2) Borchert, Wolfgang: Draußen vor der Tür. Hamburg 1956. S. 24

 

3) Borchert, Wolfgang: a.a.O. S. 41

 

4) Borchert, Wolfgang: a.a.O. S. 43

 

5) Borchert, Wolfgang: a.a.O. S. 44

 

6) Borchert, Wolfgang: a.a.O. S. 44

 

7) Kindler: Kindlers Literatur Lexikon. o. A.

 

8) Borchert, Wolfgang: a.a.O. S. 12

 

 

 

Literaturverzeichnis

 

 

Balzer, Bernd: Wolfgang Borchert, Draußen vor der Tür. Frankfurt am Main 21988

 

Borchert, Wolfgang: Draußen vor der Tür, Hamburg 1956

 

Gehse, Harro: Analysen und Reflexionen, Wolfgang Borchert, Draußen vor der Tür. Hollfeld 1993

 

Große, Wilhelm: Materialien, Wolfgang Borchert, Draußen vor der Tür. Stuttgart 1980

 

Hirschenauer, Rupert und Weber, Albrecht: Interpretation zu Wolfgang Borchert. München 1962

 

Kindler: Kindlers Literatur Lexikon. o. A.

 

Schröder, Claus B.: Wolfgang Borchert. Hamburg 1985